Gesundes Ich

Dr. Grönemeyer: „Keine Ausgrenzung mehr in der Medizin“

Susanne Petersen

Susanne Petersen

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer sitzt auf einem Sofa
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Professor Dietrich Grönemeyer ist einer der bekanntesten deutschen Ärzte, Wissenschaftler und Autoren. Medizin bedeutet für Grönemeyer vor allem die integrative Zusammenarbeit eines Teams aus Ärzten, Krankenschwestern, Naturheilkundlern, Psychologen, Physiotherapeuten u.a., die gemeinsam die besten Lösungen für Patienten finden. Welche Rolle Empathie dabei spielt und warum sich das Gesundheitssystem dringend ändern muss, erzählt er im Interview.

Herr Professor Grönemeyer, wie krank ist das deutsche Gesundheitssystem?

Ziemlich krank. Denn der heutige Medizinbetrieb ist straff ökonomisch geprägt und durchorganisiert. Statt Zuwendung gibt es dann lieber mal eine Tablette oder eine Operation. Statt psychosomatisch-sozial orientierter Gespräche und persönlicher Untersuchungen des Körpers viel kalte Technologie, die dem Patienten im Gespräch auch nicht nähergebracht wird. Zwar gibt es positive Ausnahmen, aber einer würdevollen Heilkunst zwischen Hightech und Naturheilkunde, zwischen Psychosomatik und Umweltmedizin steht so Einiges im Wege. Ein Beispiel: Statt eines vorsichtigen Behandlungsbeginns mit Hausmitteln oder Naturmedizin, der eine begleitende Behandlung des Arztes erfordern würden, werden vielfach sofort schulmedizinische »Geschütze« aufgefahren. Der Patient, der Mensch als Individuum wird alleingelassen.

Seit rund einem Jahr ist Karl Lauterbach Gesundheitsminister. Viele hofften damals auf deutliche Verbesserungen im Gesundheitssystem.

Leider zu Unrecht, wie wir bisher gesehen haben. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir aufhören müssen, uns wechselseitig das Leben schwer zu machen, Ängste zu schüren, statt sachlich zu erklären und aufhören, widersprüchlich zu argumentieren, statt klar und eindeutig zu kommunizieren. Eine menschenwürdige Medizin muss vom Patienten ausgehen, muss empathisch sein, ihm nützen, guttun und für sein Wohlbefinden sorgen. Vor allem aber darf es keine Ausgrenzung mehr geben.

Was genau meinen Sie damit, wer wird aus Ihrer Sicht benachteiligt?

Im Krankenhaus setzt man nur noch auf ausgebildete Pflegekräfte, aber die Physiotherapeuten, die Hebammen und Ernährungsberater werden ausgehebelt. Das hat absurde Züge angenommen – auch wenn man einen Blick auf die Pläne für eine Krankenhausreform wirft.

Es geht doch um die Menschen, um die Qualität der Menschen, die man im Krankenhaus braucht, um gesund zu werden oder wieder zu Kräften zu kommen. Es ist seit Jahrzehnten ein Unding wie Hebammen behandelt werden. Das Gleiche gilt für Physiotherapeuten, die in einer Viertelstunde den Patienten wieder fit machen sollen und dafür unfassbar schlecht bezahlt werden. Oder für die Psychologen.

Was konkret müsste sich ändern, und warum wäre das für die Patienten so wichtig?

Ich wäre froh, wenn genauso viel Geld in die Pflanzenheilkunde oder auch in manuelle Therapien wie Massagen oder Osteopathie investiert würde wie auch in die Hightech-Medizin. Denn jeder Therapeut, der mit den Händen die Körperstrukturen erfasst, ist mindestens genauso wichtig wie ein Operateur. In der Prävention sowieso, denn er spürt die faszialen Änderungen mit den Händen. Er liest gleichsam die Ursachen für mögliche spätere Beschwerden.

Die Lösung liegt aus Ihrer Sicht in einer Zusammenarbeit der Disziplinen, also einer Integrativen Medizin?

Genau, weil nicht nur körperliche Beschwerden, sondern auch psychosoziale Probleme dramatisch zunehmen. Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg, jetzt noch die Inflation, drohender Arbeitsplatzverlust, Klima- und Energiekrise. Das schürt Ängste, die für extremen körperlichen Stress sorgen, der wiederum unsere Immunabwehr schwächt und damit krank machen kann.  Das zeigt schon, wir brauchen neue Lösungen und einen engen Zusammenschluss aller Heilberufe. Ein Team, das sich um die Belange des Patienten kümmert, ein Zusammenschluss zum Beispiel von Ärzten, Heilpraktikern, Psychologen, Hebammen und Ernährungsberatern. Wir müssen zusammenrücken und dürfen uns nicht länger unsinnige Entscheidungen von Politikern, die nie an der Basis gearbeitet haben und viele Probleme gar nicht sehen, aufzwingen lassen.

Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer
„Gesundheit ist immer individuell“, sagt Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer. / © Laura Möllemann

Definieren politische Entscheider Gesundheit zu einseitig?

Gesundheit kann man zwar als Ganzes begreifen, man kann sie aber nicht allgemeingültig bestimmen. Gesundheit ist immer individuell – sie hat auch mit persönlicher Befindlichkeit und der Vorgeschichte zu tun. Gesundheit ist für mich Wohlbefinden, das von Ärzten und Patienten gemeinsam erarbeitet werden muss.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Zuhören, Anschauen, Riechen und Intuition seien wichtig, wenn man Menschen behandelt…

…weil die Zukunft einer sprechenden, hörenden und mitfühlenden und menschlichen Medizin gehört. Dafür ist es unerlässlich, mit den Menschen zu reden. Zuwendung heißt auch, zuhören zu können. Man kann Menschen nicht im Turboalltag einer Arztpraxis in zwei bis fünf Minuten erfassen. Du musst dir ein Bild machen. Leider lernen wir das in der medizinischen Ausbildung nicht mehr, wir lernen, dass Technik alles ist. Wir lernen nicht zuzuhören und auch nicht, dass man in einem multidisziplinären Team die besten Lösungen für den Patienten findet. Die Wirbelsäule gehört zum Beispiel weder dem Neurochirurgen noch dem Anästhesisten, noch dem Schmerztherapeuten oder dem Radiologen. Sie gehört dem Patienten und der braucht die beste Therapie des Teams.

Aber wer kann die beste Therapie im Sinne der Patienten steuern?

Für mich ist das der Hausarzt, die Ärztin oder der Arzt des Vertrauens. Liegt der Familienfrieden im Argen, ist es ein drohender Arbeitsplatzverlust, der einen bedrückt, ist es ein Tumor, der sich gerade entwickelt? Dafür brauchst du einen Co-Piloten, der dich in allen Gesundheitsfragen betreut.

Ist es denn der Hausarzt allein, der einen bei Gesundheitsfragen leiten könnte?

Die Rolle des Hausarztes sehe ich ergänzt um ein erweitertes Berufsfeld der Krankenschwester oder des Krankenpflegers. Man könnte den gesamten Berufsstand aufwerten, in dem dieser entsprechend ausgebildet als „Arztassistenz“ selbst tätig werden dürfte, auch wenn das viele Ärzte nicht gern hören – zum Beispiel beim Impfen, bei Ultraschalluntersuchungen oder in der psychosomatischen Betreuung der Patienten und als persönlicher Kümmerer zwischen den medizinischen Welten.

Mit den Gesundheitskiosken, die unser Gesundheitsminister gerade ins Leben ruft, soll es doch Anlaufstellen für die Menschen geben, die beraten und leiten sollen. Ist das der richtige Weg?

Das ist ein kluger Ansatz, den ich immer wieder formuliert habe, dass wir regionale Angebote schaffen müssen. Wenn man Hausärzte mit ambulanten Diensten verbindet, könnte man sozialmedizinisch viel leisten. Da könnte man impfen, gleichzeitig Ernährungsaufklärung betreiben, zu mehr Bewegung anregen und könnte zudem Schulärzte integrieren. Wenn das so gedacht wäre. Wir brauchen Gesundheitshäuser im regionalen Umfeld, das ist mehr als ein Kiosk.

Da stellt sich allerdings die Frage nach der Finanzierbarkeit?

Klar sind die Kosten im Gesundheitssystem sehr hoch. Deswegen finde ich Prävention so wichtig. Diese könnte in der ambulanten Medizin in der Zusammenarbeit von klassischer Medizin und Naturheilkunde gelingen. Es geht darum, gesundheitliche Schäden nicht nur frühzeitig zu erkennen, sondern schon bei leichteren Beschwerden mit Entspannungsmethoden, Psychosomatik und Pflanzenheilkunde frühzeitig einzugreifen. Allein das spart Geld.

Warum wird das nicht systematisch getan?

Oft wird von Prävention nur geredet und nicht gehandelt.  Jeder redet von Vorsorge, jeder redet von Telemedizin, jeder redet von Digitalisierung, die wir seit 30 Jahren nicht haben. Und dann reden wir darüber, Krankenhäuser zu schließen. Wir brauchen die Krankenhäuser!

Aber wie können Krankenhäuser sich sinnvoll aufstellen?

Statt Krankenhäuser zu schließen, würde ich daraus Gesundheitshotels entwickeln. Mit bestehendem sowie neuem Personal, um eine erlebnisorientierte und ganzheitliche Medizin zu schaffen. Krankenhäuser könnten zusätzlich Seniorentreffs, Kindergärten, einen naturheilkundlichen Shop, ein Sanitätshaus bis hin zu kulturellen Veranstaltungen unter einem Dach bieten. Das wäre ein Ansatz, Gesundheit und Wohlbefinden in einer Region vor Ort zu schaffen.

Wie sollten sich Krankenkassen aufstellen, damit eine ganzheitliche Medizin bezahlbar wird?

Ich erwarte von einer gesetzlichen Krankenkasse in erster Linie, dass sie die wichtigen Vorsorgeuntersuchen übernimmt. Also zum Beispiel Krebsvorsorgeuntersuchungen. Für Zusatzleistungen könnte man eine neue Form der Krankenversicherung schaffen, die „Privasetzliche“, wie ich sie nenne. Ein solches Modell ist doch gar nicht fremd, das kennen wir aus der KFZ-Versicherung oder auch von der Zahnzusatzversicherung. Zudem hätte ich die Praxisgebühren nicht abgeschafft, sondern umgewandelt in Beiträge für die private Zusatzversorgung.

Und welche Aufgabe haben die Patienten selbst? Wie steht es um die Eigenverantwortung?

Wir haben durch unser Krankenversicherungssystem gelernt, dass wir versichert sind – Medizin ist bezahlt, ich gehe zum Arzt und der wird mich schon gesund machen. Vorsorge ist kein Thema. Es gibt zwar Vorsorgetermine, die durch die Krankenkassen vorgegeben werden. Aber dass es so verankert ist, dass ich mich um mich selbst kümmern muss, findet nicht statt. Schon gar nicht, wenn es „weh tut“ und man sich selbst finanziell beteiligen muss. Man gibt sich quasi beim Arzt ab, man hängt sich an der Garderobe auf und sagt „jetzt mach mich mal gesund“. Wie ich in meinem Buch schreibe: „Wer nicht als Objekt behandelt werden möchte, darf sich selbst nicht als Objekt behandeln, dass er anderen zur Reparatur überlässt.“

Buchcover Medizin verändern von Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer

Buchtipp: „Medizin verändern: Heilung braucht Zuwendung, Vertrauen und Mut zu neuen Wegen“ von Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer, erschienen am 9. November 2022 im Ludwig Verlag. Mehr Informationen finden Sie hier.

Was ist integrative Medizin?

Die Integrative Medizin verbindet – basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen – die konventionelle Medizin mit ergänzenden Behandlungsmethoden wie beispielsweise Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM), Homöopathie, Phytotherapie oder etwa Osteopathie und Ayurveda zu einem Gesamtkonzept.

Im Fokus steht dabei immer der Mensch. Bei der Behandlung von Krankheiten werden deshalb persönliche Bedürfnisse und das subjektive Krankheitserleben der Patient:innen intensiv mit einbezogen. Integrative Medizin verfolgt die Zielsetzung  die bestmögliche Therapie für den Einzelnen zu finden um dadurch auch die jedem Organismus zur Verfügung stehenden Selbstheilungskräfte optimal zu nutzen.

Dabei arbeiten Ärzte, Heilpraktiker, Hebammen, Apotheker und Pflegekräfte Hand in Hand.

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